Rubrikenbild Young Rebels

Den Blick aufs große Ganze

Das Gerüst klappert doch bedenklich. Sicherer Tritt, fester Griff, die Metallleitern ächzen beim Aufstieg, wer lässt hier eigentlich wen erzittern? "Nicht so wackeln!" faucht ein Kameramann, der sich oben bereits positioniert hat, um die U17-Partie zwischen dem FC St. Pauli und Werder Bremen im Stadion am Königskinderweg zu filmen. Roger Stilz entschuldigt sich sanft. Er ist kein Mann der lauten Töne, sondern der überlegten. Und dann verschafft sich der Leiter des Nachwuchsleistungszentrums der Kiezkicker (NLZ) von seinem Turm aus einen Überblick. Er schaut zur Gästebank, er schaut auf die Aufstellung, zu Trainer Timo Schultz, zu den Zuschauern und Angehörigen der Spieler, zum Getränkestand - und vor allem auf den Platz. Denn dort spielen elf talentierte Jungs in Braun-Weiß, die in ein paar Jahren das sichere Gerüst einer erfolgreichen Profimannschaft bilden sollen.

Roger Stilz blickt ganzheitlich auf die Dinge: "Vielfalt finde ich gut, Einseitigkeit langweilt mich." Ein Satz, den man auch als roten Faden von Stilz' Werdegang bezeichnen könnte. Und ein Satz, der zu seiner Funktion als Leiter des NLZ beim FC St. Pauli passt. Seit einem Jahr arbeitet der Vater eines Sohnes mit knapp 90 Mitarbeitern zusammen, er organisiert, überprüft, begleitet, versucht zu optimieren. Die angestrebte Weiterentwicklung ist für ihn ein breit gefächertes Projekt, von dem die Jugendspieler und der Verein profitieren sollen: "Einen Spieler zum Profi zu machen, das ist unsere Hauptaufgabe und zugleich die schwierigste", so Stilz.

 

"Erst der Mensch, dann der Inhalt"

 

Um dieses Ziel umzusetzen, schaute sich Roger Stilz nach seinem Amtsantritt zunächst um, analysierte Strukturen, Räumlichkeiten, Personal. Einen Lagerraum ließ er in ein Büro umwandeln, die Kompetenzen der Angestellten förderte er, um sie weiter zu verbessern. "Wir haben begrenztes Personal, aber statt eines aufgeblasenen Containerriesens habe ich lieber einen kompakten Frachter", erzählt er. In seinem Arbeitsalltag pendelt Stilz zwischen Schreibtisch und Spielfeld, immer nah am Geschehen und den Personen. "Erst der Mensch, dann der Inhalt", ist sein Leitsatz, wenn es um die Beurteilung und Förderung von jungen Talenten geht. Neben der sportlichen Perspektive, als Profi am Millerntor zu spielen, setzt der Schweizer bei der Bindung an den Verein auch auf die Identität des FC St. Pauli und dessen Werte wie Vielfalt und Toleranz. Diese begeistern ihn schon länger: "Nach meinem Umzug nach Hamburg wohnte ich in Altona und Eimsbüttel, war häufig im Viertel unterwegs und am Millerntor. Aufgrund meiner persönlichen Überzeugungen hatte ich eine Affinität zu dem, wofür der FC St. Pauli steht." Jene will er konkretisieren, eine klare Haltung für das NLZ entwickeln, die nach innen gelebt wird und nach außen Strahlkraft hat.

Denn das Werben um Talente erfordert Nachhaltigkeit, Perspektive und Kreativität:
Finanzkräftige Konkurrenten aus Leipzig, Wolfsburg und Dortmund lockten in den letzten Jahren zahlreiche Nachwuchsspieler vom FC St. Pauli weg, der große Aderlass konnte dieses Jahr verhindert werden. Mit Jan-Marc Schneider und Yi-Young Park wurden jüngst zwei Jugendspieler mit Profiverträgen ausgestattet, weitere sollen und werden folgen. "Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir Jugendspieler zu Profispielern entwickeln können", sagt Roger Stilz.

 

Fussballkultur spielerisch leben

 

Auf die Anfänge seiner Fußballer-Karriere angesprochen, spricht er über seine Mutter, eine leidenschaftliche Handballspielerin, die bei ihm als Kind die Liebe zum Sport entfachte. Mit sieben Jahren entschied sich der Schweizer jedoch, Bälle lieber zu treten als zu werfen. Mit dem Fahrrad fuhr er fortan zweimal die Woche in den Nachbarort zum Training und zu den Spielen. Er profitierte von Ausbildern, die für die damalige Zeit in einem Amateurverein sehr strukturiert mit den Jugendlichen arbeiteten. Trainingspläne, Junioren-Bundesligaspiele gegen große Vereine wie Grasshoppers oder den FC Zürich, Trainingslager - all das förderte Stilz' fußballerische Entwicklung. Im Alter von 17 Jahren debütierte er in der Dritten Schweizer Liga, war später Stammspieler zahlreicher Zweitligisten, mit dem Liechtensteiner Hauptstadt-Club FC Vaduz betrat er gar internationales Parkett. Sportliche Schlaglichter, die für ihn nur ein Teil des Gesamtbildes sind: "Die Reisen zu den Europacup-Spielen waren schon ein Highlight. Und das Jahr bei Étoile Carouge in Genf hat mir kulturell sehr gut getan. Ich verbesserte mein Französisch und lernte eine andere Fußballkultur kennen." Sein Interesse an Kultur, Musik und Literatur stand dem Fußball in nichts nach. Er besuchte ein musisches Gymnasium und absolvierte eine Ausbildung zum Grundschullehrer. Pädagogische Kompetenzen, die für seine heutige Funktion wichtig sind. Einen Spieler zu betreuen heißt auch, sein Umfeld zu kennen, Elterngespräche zu führen, seine Interessen einzubeziehen und zu fördern – auf und neben dem Platz.

Während seines Studiums der Germanistik und Geschichte reiste Roger Stilz von Zürich aus quer durch Deutschland und verlor sein Herz an Hamburg. Die Stadt habe es ihm leicht gemacht: "Das Gefühl war sofort da. Ich war beeindruckt von Offenheit der Menschen, ich fühlte mich sofort wohl", erinnert er sich. Er schloss sein Masterstudium ab und spielte bei Altona 93 sowie Victoria Hamburg. Er betreute die Jugendabteilung von "Vicky" und baute sie aus, wofür der Verein 2011 den Uwe-Seeler-Preis des Hamburger Senats erhielt. Freiberuflich zudem als Journalist, Werbetexter und Model tätig, baute Roger Stilz sich mehrere Standbeine auf, sein "Schweizer Sicherheitsgedanke wollte sich nicht nur auf eines verlassen."

 

Zeit der Veränderung

 

Seine größte Hoffnung, über die Spielerkarriere hinaus weiterhin im Fußball arbeiten zu können, erfüllte sich zur Saison 2013/2014, als er Co-Trainer beim HSV wurde und ein turbulentes Jahr erlebte. Vier Trainern assistierte er in zwölf Monaten, eine Zeit des permanenten Wechsels. Den personellen Rochaden folgte eine Luftveränderung: Roger Stilz und seine Familie zogen nach Nürnberg, wo an der Seite von Valérien Ismaël nach fünf Monaten jedoch Schluss war. "Es heißt ja, ein Menschenleben sind sieben Hundejahre - so hat sich diese Zeit angefühlt ", resümiert Stilz rückblickend über enttäuschte Erwartungshaltungen, Abhängigkeit von Resultaten und Druck. Die negativen Erfahrungen des Profigeschäfts hinterließen Spuren und streuten auch Zweifel. Stilz nutzte die unfreiwillige Freizeit und erwarb mit der Ausbildung an der Sportschule Hennef bei Köln die DFB-Fußballlehrerlizenz, die ihn zur Cheftrainertätigkeit in der Bundesliga legitimiert. Dann folgte er dem Ruf seiner Wahlheimat Hamburg zum FC St. Pauli.

Halbzeit in Schnelsen. Die Mai-Sonne entfaltet ihre ganze Kraft, Zeit für eine Stärkung. Der Bratwurststand erfreut sich hoher Beliebtheit und erfordert Geduld. Roger Stilz ist ein gefragter Mann, im kühlen Schatten der Bäume spricht er mit Trainern, Scouts, Eltern. Deren Kinder liegen zur Pause bereits 0:3 zurück, Werder ist seit Wochen Meister der Staffel und das überragende Team der Liga. Mit der Entwicklung der eigenen U17 ist Stilz zufrieden, sechs Spielern traut er den Sprung nach oben zu, ein starker Jahrgang. Auch in der U19 und U23 sieht er Potential.

 

Perspektiven aufzeigen, individuell entscheiden

 

Um einen Jugendspieler dauerhaft bei den Profis zu etablieren benötigt es aber mehr als Talent: Der Schweizer lobt die psychologische Betreuung sowie die Quartalsberichte der Trainer und Betreuer. Sie sollen dabei helfen, die Jungs bestmöglich zu begleiten - teilweise auch zum Missfallen ungeduldiger Berater oder Eltern: „Wir sind keine Wunscherfüller. Ein Spieler muss sich zuerst bei den Profis einordnen, sich aber später auch auf dem Platz und in der Kabine durchsetzen können“, sagt Stilz. Doch nicht allen Jugendlichen, die aktuell das Trikot des FC St.Pauli tragen, wird dieser Schritt gelingen. Was passiert mit denen, die es nicht schaffen? Roger Stilz hält kurz inne. "Eine schlechte Nachricht bleibt immer eine schlechte Nachricht, deswegen reden wir ehrlich und offen mit den Jungs, um fair zu bleiben." Solche Gespräche hat das NLZ nicht exklusiv, sie sind vereinsübergreifender Bestandteil der unterschiedlichen Entwicklungsprozesse junger Spieler. "Sich in einem Champions-League-Kader durchzusetzen ist schwerer, als in der Zweiten Liga Profi zu werden", verweist Stilz auf die Erwartungshaltungen bei anderen Vereinen. Jene Talente werden für die Kiezkicker zunehmend interessant. "Die Perspektive Zweite Liga gilt sowohl für die internen als auch die externen Spieler."

Am Ende des Nachmittags unterliegen die Braun-Weißen mit 1:5 gegen Werder, das Resultat fällt etwas zu hoch aus. Die U17 beendet die Saison auf dem sechsten Platz. Alle Jugendmannschaften konnten ihre jeweiligen Ligen halten, auch wenn die U23 erneut bis zum letzten Spieltag zittern musste. Die U19 gewann zudem den Pokal. Ist Roger Stilz stolz auf das bisher Erreichte? "Ich denke immer, es geht mehr, was eben meinem Naturell entspricht. Aber wir waren fleißig, haben als Team einen guten Job gemacht. Dazu gehören alle, Trainer, Betreuer, Physios, Pädagogen, Fahrer. Das NLZ, so wie es heute ist und von uns weiterentwickelt wird, würde ohne die riesige Mithilfe der AFM nicht existieren. Dafür sind wir sehr dankbar, denn es kommen große Aufgaben auf uns zu."

Die Zertifizierung des NLZ seitens des DFB steht an, die drei Sterne und damit die höchste Form der Auszeichnung soll bestätigt werden. Damit dies gelingt, soll das Profil weiter geschärft, neue Schwerpunkte in der Trainingsarbeit gesetzt und die Infrastruktur verbessert werden. Die Aufteilung auf drei verschiedene Standorte (Brummerskamp, Kollaustraße, Millerntor) bedeutet Umwege und Synergieverluste, die der Verein zukünftig verbessern und vermeiden will. Für Spieler, die bisher weite Anreisewege zurücklegen müssen, ist St. Pauli zudem auf der Suche nach Gastfamilien, um auch überregional attraktiver zu werden.

All dies hat Roger Stilz im Hinterkopf, als er nach Abpfiff sicheren Schrittes das Gerüst verlässt. Viel Arbeit wartet auf ihn und die Mitarbeiter des Nachwuchsleistungszentrums. Besser, man behält dabei stets den Überblick.

 

Text: Martin Schneider Fotos: Peter Boehmer