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Halbes Boot und Abkippen im V

Früher musste er alles selber machen. Remigius Elert saß am Wochenende oft mehrere Stunden zu Hause vor seinem Computer, um Videos von Jugendfußballspielen zu schneiden. Elert, 37 Jahre alt, war gut zwei Jahre lang hauptamtlicher Trainer der U15-Mannschaft des FC St. Pauli, seit September ist er als Nachfolger von Thomas Meggle für die U23 verantwortlich. Wie die meisten anderen Trainer in Nachwuchsleistungszentren nutzt er Videoanalysen, um mit seiner Mannschaft an der taktischen Formation zu arbeiten, ihr Passmöglichkeiten zu zeigen und Laufwege zu erklären. Das war bis zu diesem Sommer mit mühsamer Heimarbeit verbunden.

Jetzt dauert es nur noch ein paar Sekunden, um einen Spielzug aufzubereiten. Dafür benutzt Elert eine Software, die bereits von Clubs wie Borussia Dortmund, dem FC Chelsea und dem AC Mailand eingesetzt wird. Dartfish heißt das Programm, es anzuschaffen kostete 25.000 Euro, und pro Jahr werden weitere 5.000 Euro fällig, die von der AFM übernommen werden.

Das neue System erlaubt es Elert, Spielsequenzen mit einem Mausklick zu schneiden, sie mit Kommentaren zu versehen und anschließend in eine Datenbank von Einzelsituationen zu integrieren. Einmal pro Woche analysiert Elert vor seiner Mannschaft eine halbe Stunde lang die wichtigsten Spielszenen des Wochenendes. Er zeigt Beispiele für gelungene Spieleröffnungen und Angriffe, erklärt aber auch, was man besser hätte machen können. Elert kann dazu im Bild zeichnen, beispielsweise um Freiräume zu markieren, die bei einem Angriff entstanden sind. Hin und wieder untermalt er die Videos mit Musik, denn die positiven, motivierenden Aspekte sollen im Vordergrund stehen. „Die Dosierung und die Ansprache sind wichtig“, sagt Elert.

Etwa alle drei Wochen bekommt jeder Spieler eine individuelle Videoanalyse, auf die er per Smartphone zugreifen kann. Im Audiokommentar fragt Elert seinen Spieler dann zu Bildern eines Angriffs, warum ein leicht gebogener Antritt in Richtung des Balles besser gewesen wäre. In das Kommentarfeld tippt der Spieler im Idealfall die Antwort: Er hätte den Ball so zum Tor treiben können.

Elert hat ziemlich genaue Vorstellungen davon, wie ein Spiel eröffnet wird, wie die Mannschaft sich im Angriff verhält und in welche Formation sich das Team bei einem Ballverlust begibt. Seine Arbeit ist Teil eines größeren Ganzen, einer Spielphilosophie, die der FC St. Pauli verfolgt: Alle Mannschaften sollen offensiv verteidigen. Die Abwehr, das Mittelfeld und der Angriff pressen gegen den Ball. So vermitteln es die Trainer des FC St. Pauli von der U12 an im gesamten Aufbaubereich bis zur U15, und natürlich auch im Leistungsbereich, den Teams von der U16 bis zur Profimannschaft.

Elert und seine Trainerkollegen wollen in bestimmten Spielsituationen eine ganz bestimmte Reaktion sehen. Dafür haben sie eigene Begriffe erfunden. Ein Angriff aus der Viererkette im 4-2-3-1-System wird eröffnet, indem sich ein Sechser seitlich zu einem der beiden Innenverteidiger bewegt. Die gedachte Linie zwischen diesen drei Spielern ergibt ein „halbes Boot“. „Abkippen im V“ bedeutet beim 4-4-2, dass ein Stürmer die Lücke schließt, die der andere reißt, wenn er den Mittelfeldspielern entgegenkommt. Diese Wortwahl ist kein Zufall, sondern zwischen den Trainern im Nachwuchsleistungszentrum des FC St. Pauli abgesprochen. Alle Spieler von den Jugendmannschaften bis zu den Profis sollen bei ihren Anweisungen sofort wissen, um was es geht.

Dartfish ermöglicht es, die in den Trainingsplänen festgehaltenen Verhaltensweisen für jede einzelne Spielsituation visuell darzustellen. Das wird bei der nächsten Zertifizierung des Leistungszentrums im kommenden Februar für Pluspunkte sorgen, glaubt Elert. Denn die Prüfer im Auftrag der Deutschen Fußball Liga verlangen nicht nur, dass ein Club eine Spielphilosophie entwirft und vermittelt, sie wollen, dass das auch durch Bilder geschieht, am besten durch bewegte Bilder wie bei Dartfish.

Elert will die Software demnächst auch schon während eines Spiels einsetzen. Eine Abwehraktion, die er besprechen möchte, kann er per App mitschneiden und in der Halbzeit auf dem Monitor in der Kabine vorführen. Technisch ist bereits vieles machbar, und die Entwicklung geht weiter. Dartfish bietet den Trainerblick und vermittelt Wissen theoretisch. Zukünftige Programme werden es dem Spieler erlauben, Situationen selbst neu zu durchleben. Remigius Elert sagt voraus: „Am Ende steht die Bluebox, in die der Spieler tritt und das Spiel nachträglich verändert.“

Das Interview in voller Länge und weitere spannende Artikel über die Jugendarbeit beim FC St Pauli lest Ihr schön gestaltet im YOUNG REBELS Magazin #09. Das aktuelle YOUNG REBELS Magazin ist erhältlich zum Download über diesen Link. AFM-Mitglieder bekommen es  im November 2014 exklusiv per Post zugeschickt. Ein paar Restexemplare der Druckausgabe liegen außerdem zur kostenlosen Mitnahme im AFM-Büro in den Fanräumen in der Gegengerade im Millerntor-Stadion. Nur solange der Vorrat reicht!